Adresse:
Rechtsanwaltskanzlei Moegelin Zerndorfer Weg 63 13465 Berlin
E-Mail:

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach entzündeter Tätowierung

15. Oct
2025

 

Nach einer Tätowierung muss damit gerechnet werden, dass sich die tätowierte Hautstelle entzündet. Diese Komplikation wird bei Einwilligung in die Tätowierung billigend in Kauf genommen. Führt diese Komplikation zur Arbeitsunfähigkeit, besteht kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, da den Arbeitnehmer ein Verschulden an der Arbeitsunfähigkeit trifft. (Leitsatz)

Volltext des Urteils des Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein vom 22.05.2025 - 5 Sa 284 a/24:

Tenor

    Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Flensburg vom 24.10.2025 - Az. 2 Ca 278/24 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Randnummer1

    Die Parteien streiten um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Randnummer2

    Die Beklagte betreibt einen Pflegedienst mit Sitz in K.. Die Klägerin trat am 21.08.2023 als Pflegehilfskraft in die Dienste der Beklagten. Sie war in der Tagespflege eingesetzt. Die Parteien vereinbarten ein Bruttomonatsgehalt i.H.v. 1.956,60 Euro bei einer 30-Stunden-Woche. Wegen des weiteren Inhalts des Arbeitsvertrags wird auf die Anlage K 1 (Bl. 4 ff. d. A.) verwiesen.

Randnummer3

    Am 15.12.2023 ließ sich die Klägerin am Unterarm tätowieren. In der Folgezeit entzündete sich die tätowierte Stelle. Am 19.12.2023 teilte die Klägerin ihrer Vorgesetzten, der Pflegedienstleitung Frau W., mit, dass sie bis zum 22.12.2023 aufgrund einer Entzündung im Unterarm, die die Einnahme von Antibiotika erforderlich mache, krankgeschrieben sei und überreichte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für diesen Zeitraum.

Randnummer4

    Die Beklagte zahlte für den Monat Dezember 2023 ein reduziertes Monatsgehalt i.H.v. 1.490,74 Euro brutto aus und rechnete darüber ab. Für die Tage 20.12.2023 – 22.12.2023 und 27.12.2023 – 28.12.2023 vermerkte sie auf der Abrechnung "Unbezahlte Freizeit (unentschuldigtes Fehlen, Arbeitsbummelei)". Sie lehnte mit Schreiben vom 16.01.2024 die Leistung von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für diese Tage ab. Mit gewerkschaftlichem Schreiben vom 29.01.2024 machte die Klägerin den Differenzbetrag zum vereinbarten Bruttomonatsgehalt in Höhe von 465,90 Euro brutto geltend und setzte eine Zahlungsfrist bis zum 12.02.2024.

Randnummer5

    Nachdem die Frist erfolglos verstrichen war, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 15.03.2024, der der Beklagten am 26.03.2024 zugestellt worden ist, Zahlungsklage erhoben.

Randnummer6

    Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe für die streitgegenständlichen Tage einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die Klägerin mache nicht Entgeltfortzahlung für den Zeitraum des Tätowierungsvorgangs geltend, sondern für eine davon zu trennende zeitlich nachfolgende Entzündung der Haut. Der Klägerin sei insoweit kein Verschulden i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG vorzuwerfen. Es habe sich ein sehr geringes Risiko, das nur bei 1 – 5 % der Fälle von Tätowierungen auftrete, verwirklicht. Die Klägerin habe nicht damit rechnen müssen, dass eine solche Infektion auftreten würde. Es handele sich um eine unübliche Folgeerkrankung. Tätowierungen seien als Teil der privaten Lebensführung geschützt und mittlerweile weit verbreitet. Genau wie beim Ausüben von verletzungsanfälligen Sportarten, führe es nicht zum Ausschluss des Entgeltfortzahlungsanspruchs, wenn sich ein geringes Risiko für eine Verletzung oder Folgeerkrankung verwirkliche.

Randnummer7

    Die Klägerin hat beantragt:

Randnummer8

    Die Beklagte wird verurteilt, 465,90 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.01.2024 an die Klägerin zu zahlen.

Randnummer9

    Die Beklagte hat beantragt,

Randnummer10

    die Klage abzuweisen.

Randnummer11

    Die Beklagte hat gemeint, ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bestehe im streitgegenständlichen Zeitraum nicht, da die Klägerin die Erkrankung selbst verschuldet habe. Sie habe in eine gefährliche Körperverletzung eingewilligt. Das Risiko einer sich anschließenden Infektion gehöre nicht mehr zum normalen Krankheitsrisiko und könne daher nicht der Beklagten als Arbeitgeberin aufgebürdet werden. Es hätte nach der Richtlinie über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung (nachfolgend: Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) bereits keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erteilt werden dürfen, da gem. § 3 Abs. 2 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie bei kosmetischen und anderen Operationen ohne krankheitsbedingten Hintergrund und ohne Komplikationen keine Arbeitsunfähigkeit vorliege. Jedenfalls sei die Wertung des § 52 Abs. 2 SGB V übertragbar, wonach eine Leistungsbeschränkung für die Krankenkassen bestehe, sofern sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen haben.

Randnummer12

    Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 24.10.2024 die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe zwar im streitgegenständlichen Zeitraum infolge Krankheit die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nicht ausüben können. Sie habe dennoch keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlungsanspruch gegen die Beklagte, weil diese Arbeitsunfähigkeit nicht ohne ihr Verschulden eingetreten sei.

Randnummer13

    Aus der gesetzlichen Wertung des § 3 Abs. 2 EFZG folge, dass der Gesetzgeber grundsätzlich davon ausgehe, dass in den nicht gesetzlich geregelten Sonderfällen, Erkrankungen, die erst durch medizinisch nicht notwendige ärztliche Eingriffe ausgelöst werden, kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung bestehe. Es sei dann davon auszugehen, dass die Arbeitsunfähigkeit verschuldet im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG sei, da der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit bewusst herbeigeführt habe. Bei medizinisch nicht notwendigen Schönheitsoperationen wie einer Tätowierung würden Komplikationen von vorneherein in Kauf genommen. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung sei daher ausgeschlossen.

Randnummer14

    Auch ein Vergleich zu der Rechtslage bei der Ausübung gefährlicher Sportarten führe zu keinem anderen Ergebnis. Während ein Sportler auch bei gefährlichen Sportarten, die lege artis ausgeübt werden, nicht damit rechne verletzt zu werden, werde bei einer Tätowierung in den körperlichen Eingriff eingewilligt in dem Bewusstsein, dass es Komplikationen geben könne, auch wenn sie nicht sehr wahrscheinlich seien. Dass der Ausschluss des Entgeltfortzahlungsanspruchs bei Komplikationen nach einer Tätowierung dem Willen des Bundesgesetzgebers entspreche, ergebe sich auch aus § 52 Abs. 2 SGB V.

Randnummer15

    Gegen das ihr am 07.11.2024 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 04.12.2024 Berufung eingelegt und diese am 07.01.2024 begründet.

Randnummer16

    Die Klägerin wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Der Klägerin sei kein Verschulden gegen sich selbst vorzuwerfen. Eine Tätowierung sei nicht mit einer Schönheitsoperation vergleichbar, da der Eingriff weniger intensiv sei und ohne Narkose erfolge. Bei einem statistischen Entzündungsrisiko von unter 5 % könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin diese Komplikation in Kauf genommen habe. Wie bei der Ausübung von gefährlichen Sportarten der Sportler darauf vertraue, das Verletzungsrisiko werde sich nicht verwirklichen, habe auch die Klägerin darauf vertraut, sie werde bis auf die üblichen Folgen einer Tätowierung wie Rötungen an der Einstichstelle keine weiteren Komplikationen erleiden. Das Arbeitsgericht habe in unzulässiger Weise den Vorgang des Tätowierens mit der anschließenden Komplikation gleichgesetzt. Der Vorsatz der Klägerin habe sich nur auf das Tätowieren, nicht aber auf die unwahrscheinliche Folgekomplikation bezogen.

Randnummer17

    Die vom Arbeitsgericht herangezogene Wertung des § 52 Abs. 2 SGB V lasse sich nicht auf das EFZG übertragen. Der Gesetzgeber habe im EFZG gerade davon abgesehen, einen Anspruchsausschluss für bestimmte Verhaltensweisen abstrakt zu normieren, sondern knüpfe den Anspruchsausschluss an das individuelle Verschulden im Einzelfall. Angesichts der Unwahrscheinlichkeit der erst Tage nach der Tätowierung aufgetretenen Komplikation sei der Klägerin kein Verschulden vorzuwerfen. Die Klägerin habe weder die Intention gehabt, die Folgeerkrankung herbeizuführen, noch habe sie diese voraussehen können.

Randnummer18

    Im Ergebnis sei der Klägerin ein gewisses Maß an egoistischer Lebensführung zuzubilligen, ohne dass die daraus resultierenden Folgen zu einem Verlust des Entgeltfortzahlungsanspruchs führen. Zu dieser Lebensführung gehöre auch die Entscheidung für eine Tätowierung.

Randnummer19

    Die Klägerin beantragt,

Randnummer20

    die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Flensburg vom 24.10.2024 – Az. 2 Ca 278/24 – zu verurteilen, 465,90 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.01.2024 an die Klägerin und Berufungsbeklagte zu zahlen.

Randnummer21

    Die Beklagte beantragt,

Randnummer22

    die Berufung zurückzuweisen.

Randnummer23

    Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Randnummer24

    Das Arbeitsgericht habe zu Recht festgestellt, dass ein Entgeltfortzahlungsanspruch jedenfalls deshalb ausgeschlossen sei, weil die Klägerin die Arbeitsverhinderung selbst verschuldet habe. § 3 EFZG verfolge den Zweck, den Arbeitnehmer bei unverschuldeter krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit finanziell abzusichern. Damit korrespondiere die Verpflichtung des Arbeitnehmers seine Gesundheit zu erhalten und zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankungen zu vermeiden. Hier habe die Klägerin gegen diese Obliegenheit verstoßen. Sie habe die Arbeitsunfähigkeit durch vorsätzliches Verhalten herbeigeführt. Die Tätowierung stelle einen kosmetischen Eingriff in den unversehrten Körper dar, der medizinisch nicht indiziert sei. Mit der Tätowierung habe sie die Komplikation, die zur Arbeitsunfähigkeit führte, billigend in Kauf genommen. Entzündungen gehörten zu einer vorhersehbaren Folge einer Tätowierung. Das normale Krankheitsrisiko sei damit überschritten worden.

Randnummer25

    Weiterhin wiederholt und vertieft die Beklagte den erstinstanzlichen Vortrag dazu, dass die Wertung des § 52 Abs. 2 SGB V auch für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG zu berücksichtigen sei und die von der Klägerin eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen entgegen § 3 Abs. 2 der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie erteilt worden seien.

Randnummer26

    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, ihre Beweisantritte und die von ihnen eingereichten Unterlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Randnummer27

    Die Berufung der Klägerin ist zulässig aber unbegründet.

Randnummer28

    A. Die Berufung ist zulässig. Sie ist gem. § 64 Abs. 2 a) ArbGG statthaft, da sie in dem Urteil des Arbeitsgerichts zugelassen worden ist, sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i.V.m §§ 519, 520 ZPO).

Randnummer29

    B. Die Berufung ist unbegründet.

Randnummer30

    Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum vom 20.12.2023 – 22.12.2023 sowie vom 27.12.2023 – 28.12.2023 gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG.

Randnummer31

    1. Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

Randnummer32

    2. Die Klägerin hat dargelegt und bewiesen, dass sie im Zeitraum 20.12.2023 – 22.12.2023 sowie im Zeitraum 27.12.2023 – 28.12.2023 arbeitsunfähig erkrankt war. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist allerdings ausgeschlossen, da die Klägerin ein Verschulden i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG an der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit trifft.

Randnummer33

    a) Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum vom 20.12.2023 – 22.12.2023 sowie vom 27.12.2023 – 28.12.2023 arbeitsunfähig erkrankt.

Randnummer34

    Die Klägerin hat für diesen Zeitraum Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zur Akte gereicht. Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit (BAG 18.09.2024 – 5 AZR 29/24 – Rn. 12).

Randnummer35

    Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist nicht deshalb erschüttert, weil sie im zeitlichen Zusammenhang mit der von der Klägerin durchgeführten Tätowierung erteilt wurden. Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass gem. § 3 Abs. 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie keine Arbeitsunfähigkeit vorliegt bei kosmetischen und anderen Operationen ohne krankheitsbedingten Hintergrund und ohne Komplikationen. Dieser Ausnahmetatbestand ist aber nicht einschlägig. Zwar kann die Tätowierung als "kosmetische Operation" verstanden werden. Die Klägerin begehrt aber nicht Entgeltfortzahlung für die Zeit der Tätowierung, sondern für eine Arbeitsunfähigkeit, die durch eine Komplikation ausgelöst wurde. Unstreitig war Grund für die Arbeitsunfähigkeit eine bakterielle Entzündung der Haut. Dies ergibt sich auch aus dem ICD Code der zur Akte gereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Diese trat erst vier Tage nach der Tätowierung als Komplikation auf.

Randnummer36

    b) Die Arbeitsunfähigkeit war von der Klägerin verschuldet i.S.d. § 3 Abs. 1 EFZG.

Randnummer37

    aa) Schuldhaft i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG handelt nur der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (BAG 20.03.2024 – 5 AZR 235/23 – Rn. 22; BAG 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 – Rn. 35; BAG 18.03.2015 – 10 AZR 99/14 – Rn. 13).

Randnummer38

    Bei dem Verschulden iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG handelt es sich nicht um ein Verschulden iSv. § 276 BGB, der das Maß an Verhaltensanforderungen des Schuldners gegenüber Dritten bestimmt. Das Entstehen einer Krankheit und/oder die daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit betrifft die Person des Arbeitnehmers selbst. Es gilt deshalb festzustellen, ob ein "Verschulden gegen sich selbst" vorliegt. Schuldhaft im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts handelt deshalb nur der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Dabei ist – anders als bei der Haftung für Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten nach § 277 BGB – von einem objektiven Maßstab auszugehen. Erforderlich ist ein grober oder gröblicher Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten (BAG 18.03.2015 – 10 AZR 99/14 – Rn. 14; BAG 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 – Rn. 36).

Randnummer39

    Mit § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG soll einerseits der Arbeitnehmer bei unverschuldeter krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit finanziell abgesichert werden, anderseits sollen Kostenrisiken zwischen Arbeitgeber und Krankenversicherung verteilt werden. Ausgehend von dieser gesetzgeberischen Zielsetzung ist das zu wahrende Eigeninteresse allein das Interesse des Arbeitnehmers, seine Gesundheit zu erhalten und zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankungen zu vermeiden. Ausschließlich dieses ist Bezugspunkt eines anspruchsausschließenden Verschuldens iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG (BAG 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 – Rn. 37).

Randnummer40

    Ob ein die Entgeltfortzahlung ausschließendes Verschulden des Arbeitnehmers vorliegt, kann immer nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (Vogelsang in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 11. Auflage 2024, § 3 EFZG Rn. 55).

Randnummer41

    bb) Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung, nämlich die durch die bakterielle Infektion hervorgerufene Entzündung der Haut, schuldhaft herbeigeführt. Aus den Umständen des Einzelfalls ergibt sich, dass die Klägerin nicht nur die eigentliche Tätowierung vorsätzlich herbeiführen ließ, sondern sich der Vorsatz als bedingter Vorsatz auch auf die durch die Tätowierung erfolgten Komplikationen erstreckte. Die Klägerin musste bei Durchführung der Tätowierung damit rechnen, dass diese Komplikation eintritt. Dieses Verhalten stellt damit zugleich einen groben Verstoß gegen das Eigeninteresse der Klägerin, ihre Gesundheit zu erhalten, dar.

Randnummer42

    (1) Die Tätowierung war kausal für die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung der Klägerin.

Randnummer43

    Ein Verschulden lässt nur dann den Anspruch auf Entgeltfortzahlung entfallen, wenn die Handlungsweise, an die das Verschulden anknüpft, für die eingetretene Arbeitsunfähigkeit kausal ist (Ricken in: BeckOK Arbeitsrecht, 75. Edition, Stand 01.03.2025, § 3 EFZG Rn. 36a). Dies ist hier der Fall. Die Tätowierung war kausal im Sinne einer conditio-sine-qua-non für die spätere Erkrankung. Denn ohne die Tätowierung wäre die Haut nicht verletzt worden, was das Eindringen der Bakterien ermöglichte und so die Entzündungsreaktion auslöste.

Randnummer44

    (2) Der Vorsatz der Klägerin umfasste nicht nur die eigentliche Hautverletzung durch die Tätowierung, sondern auch die später auftretenden Komplikationen. Die Klägerin musste mit deren Eintritt rechnen.

Randnummer45

    Vorliegend begehrt die Klägerin Entgeltfortzahlung für eine Komplikation, die durch die Tätowierung hervorgerufen wurde. Es kommt daher nicht darauf an, ob eine etwaige Arbeitsunfähigkeit während der Tätowierung verschuldet war. Entscheidend ist, ob die zeitlich nachfolgenden Komplikationen, nämlich die zur Arbeitsunfähigkeit führende Entzündung der Haut, verschuldet war.

Randnummer46

    (a) Für medizinisch nicht indizierte Operationen ist insoweit zu unterscheiden: Wird durch eine solche Operation willentlich und vorhersehbar eine Arbeitsunfähigkeit bedingende Erkrankung herbeigeführt, ist von einem vorsätzlichen Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen, Gesundheit zu erhalten und zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankungen zu vermeiden, auszugehen und ein Entgeltfortzahlungsanspruch wegen Verschuldens iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG ausgeschlossen. Ein Verschulden iSv. § 3 Abs.1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG liegt dagegen nicht vor, wenn im Rahmen einer Operation, die nach allgemein anerkannten medizinischen Standards vom Arzt oder auf ärztliche Anordnung vorgenommen wird, eine zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung auftritt, mit deren Eintritt nicht gerechnet werden muss (BAG 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 – Rn. 42 f. zu den Folgen einer In-Vitro-Fertilisation).

Randnummer47

    Teilweise wird abweichend davon in der Literatur vertreten, bei Schönheitsoperationen seien Komplikationen, die kausal auf dem Eingriff beruhen, stets verschuldet, denn der den Eingriff verlangende Arbeitnehmer nehme eine Komplikation mit Arbeitsunfähigkeit in Kauf (ErfK-Reinhard, 25. Aufl. 2025, § 3 EFZG Rn. 28; Sievers in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 2. Auflage 2022, § 3 EFZG Rn. 95). Teilweise wird davon ausgegangen, diese Komplikationen seien nicht mehr vom normalen Krankheitsrisiko erfasst, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei zu tragen. So wie die Versichertengemeinschaft das Risiko von Komplikationen nach einer ästhetischen Operation oder Tätowierung aufgrund der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V nicht tragen müsse, könne auch dem Arbeitgeber das Risiko nicht aufgebürdet werden. Eine Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung sei daher auch für Komplikationen stets ausgeschlossen (Löwisch/Beck, BB 2007, 1960, 1961).

Randnummer48

    (b) Ob für Komplikationen nach Schönheitsoperationen oder Tätowierungen eine gesonderte Betrachtung erforderlich ist, kann vorliegend dahinstehen. Insbesondere kann dahinstehen, ob bei Tätowierungen, die anders als Operationen nicht nach allgemein anerkannten medizinischen Standards vom Arzt vorgenommen werden, ein strengerer Maßstab gilt.

Randnummer49

    Denn die Klägerin musste bei der Tätowierung damit rechnen, dass als Komplikation eine Entzündung der tätowierten Stelle auftreten würde.

Randnummer50

    Die Klägerin handelte in der Absicht, sich tätowieren zu lassen. Hinsichtlich der eigentlichen Tätowierungshandlung handelte sich damit vorsätzlich. Dabei sah sie zunächst die komplikationslosen Folgen der Tätowierung, wie die Schmerzen beim Einstich und die Hautverletzung und Rötung durch die Tätowierung als notwendige Folge des Handelns voraus und willigte trotzdem in die Tätowierung ein. Sie handelte insoweit daher mit direktem Vorsatz. Das folgt daraus, dass es der Klägerin gerade darauf ankam, ihre Haut durch die Tätowierung zu schmücken und ihr dabei bewusst war, dass die Tätowierung dadurch erfolgt, dass eine in Tattoo-Farbe getauchte Nadel in die Haut sticht.

Randnummer51

    Die Kammer geht davon aus, dass die Klägerin die Komplikation zwar nicht als eine solche notwendige Folge der Tätowierung ansah. Sie musste allerdings damit rechnen. Das folgt daraus, dass die Klägerin selbst vorgetragen hat, in bis zu 5 % der Fälle komme es nach Tätowierungen zu Komplikationen in Form von Entzündungsreaktionen der Haut. Damit handelt es sich nicht mehr um eine völlig fernliegende Komplikation. Bei Medikamenten wird eine Nebenwirkung als "häufig" angegeben, wenn diese in mehr als 1 % aber weniger als 10 % der Fälle auftritt. Schon aufgrund dieser Häufigkeit musste die Klägerin mit dieser Folge rechnen. Entscheidend ist auch, dass die Komplikation in der Verletzung durch die Tätowierung angelegt ist. Schon bei einer komplikationslos verlaufenden Tätowierung, reagiert die verletzte Haut gereizt. Aus der Hautreizung kann dann eine medikamentös zu behandelnde Entzündung werden.

Randnummer52

    Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin als Pflegehilfskraft einen körperlich anstrengenden Beruf mit engem Patientenkontakt ausübt. Auch wenn schon das generelle Risiko von bis zu 5 % für eine Vorhersehbarkeit ausreicht, dürfte in diesem Einzelfall mit einem sogar noch erhöhten Risiko zu rechnen gewesen sein.

Randnummer53

    Anders als die Klägerin meint, ist der Eingriff beim Tätowieren nicht deshalb als risikoarm zu betrachten, weil der Eingriff ohne Narkose durchgeführt wird. Eine Narkose mag eine zusätzliche Gefährdungslage schaffen, ändert aber nichts daran, dass auch ein Eingriff ohne Narkose unabhängig davon mit Risiken verbunden ist.

Randnummer54

    Die Klägerin mag gehofft haben, dass diese Komplikation ausbleibt. Das genügt jedoch nicht, um einen bedingten Vorsatz auch hinsichtlich der Komplikation auszuschließen. Für einen jedenfalls bedingten Vorsatz ist insoweit nur erforderlich, dass der Betreffende den für möglich gehaltenen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Schon eine Gleichgültigkeit (Mutwilligkeit) gegenüber dem für nicht unwahrscheinlich gehaltenen Erfolg genügt. Vorsatz ist dagegen zu verneinen, wenn ernsthaft darauf vertraut wird, der Erfolg werde nicht eintreten. Entscheidend muss aber sein, wie begründet diese Hoffnung war (Grundmann in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2022, § 276 BGB Rn. 161). Angesichts der statistischen Wahrscheinlichkeit durfte die Klägerin nicht darauf hoffen, gerade bei ihr werde keine Komplikation eintreten – auch wenn das in der Vergangenheit so gewesen sein mag. Damit hat die Klägerin im vorliegenden Einzelfall die Arbeitsunfähigkeit infolge der Entzündung des Arms verschuldet iSd. § 3 Abs. 1 EFZG.

Randnummer55

    cc) Anders als die Klägerin meint, steht dieses Ergebnis auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitsunfähigkeit infolge von Sportunfällen. Hier gilt: Schuldhaft handelt der Arbeitnehmer, der sich in einer seine Kräfte und Fähigkeiten deutlich übersteigenden Weise sportlich betätigt und dadurch gesundheitlichen Schaden erleidet oder der in besonders grober Weise und leichtsinnig gegen anerkannte Regeln der jeweiligen Sportart verstößt. Darüber hinaus ist eine Sportverletzung als verschuldet angesehen worden, die sich der Arbeitnehmer bei der Teilnahme an einer sogenannten gefährlichen Sportart zugezogen hat (vgl. bereits BAG 07.10.1981 – 5 AZR 338/79 – Rn. 17). Einschränkend ist insoweit zwar zu berücksichtigen: Ein Sport ist nur dann besonders gefährlich, wenn das Verletzungsrisiko bei objektiver Betrachtung so groß ist, dass auch ein gut ausgebildeter Sportler bei sorgfältiger Beachtung aller Regeln dieses Risiko nicht vermeiden kann. Das ist dann der Fall, wenn der Sportler das Geschehen nicht mehr beherrschen kann, sondern sich unbeherrschbaren Gefahren aussetzt. (BAG 07.10.1981 – 5 AZR 338/79 – Rn. 21).

Randnummer56

    Ob eine Sportart nach diesen Grundsätzen als "gefährliche Sportart" einzuordnen ist, hängt damit von der nach objektiven Maßstäben vorzunehmenden Risikobewertung der einzelnen Sportart ab. Auch wenn bisher nur in wenigen Fällen Sportarten als "gefährlich" in diesem Sinn eingestuft worden sein mögen, gibt es im Grundsatz keine besondere Privilegierung von gefährlichem Verhalten im Rahmen der Sportausübung. Vielmehr führt das BAG ausdrücklich aus: "Für diese Sportarten gilt wie auch für andere Bereiche des täglichen Lebens: Wer sich unbeherrschbaren Gefahren und damit einem besonders hohen Verletzungsrisiko aussetzt, handelt leichtsinnig und unvernünftig und damit schuldhaft im Sinne der Lohnfortzahlungsbestimmungen." (BAG 07.10.1981 – 5 AZR 338/79 – Rn. 21). Genau dieser Maßstab ist auch auf das Verletzungsrisiko durch Tätowierungen anzuwenden und führt wie oben ausgeführt dazu, dass in diesem Einzelfall von einem Verschulden auszugehen ist.

Randnummer57

    dd) Schließlich steht das Ergebnis auch im Einklang mit der Wertung des § 52 Abs. 2 SGB V. Danach gilt: Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen, kann die Krankenkasse sie an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit versagen und zurückfordern. Grund für die Einführung dieser Regelung war, dass es als nicht sachgerecht angesehen wurde, dass die Versichertengemeinschaft Risiken übernehmen soll, denen sich die Versicherten aus eigenem Entschluss ausgesetzt haben (BT-Drucksache 16/3100, S. 108). Auch wenn diese Norm nur eine Regelung für die Krankenkassen trifft, lässt sich ihr jedenfalls entnehmen, dass zum einen Tätowierungen mit einem offensichtlich als nicht unerheblich bewerteten Risiko verbunden sind und zum anderen dieses Risiko demjenigen zugewiesen werden soll, der es veranlasst hat.

Randnummer58

    C. Die Klägerin hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen. Ein Anlass im Sinne von § 72 Abs. 2 ArbGG die Revision zuzulassen, bestand nicht.