Tarifvertrag - Schließung einer unbewussten Tariflücke
Manchmal treffen die Parteien eines Tarifvertrages
(üblicherweise Gewerkschaft / Arbeitgeberverband) Regelungen, die Lücken
aufweisen. In so einem Fall kann das Gericht mit seiner Auslegung die Tariflücke schließen,
soweit eine unbewusste Regelungslücke vorliegt.
In dem vom BAG zu entscheidenden Fall liegt so eine
Regelungslücke vor.
Nach dem Wortlaut der Tarifvorschrift ist eine Abfindung für
Arbeitnehmer, die zwar das 40. Lebensjahr schon vollendet haben, jedoch nicht
auf mindestens zehn Jahre Betriebszugehörigkeit verweisen können, nicht
vorgesehen.
Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden
Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die
durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende
Auslegung eines Tarifvertrages scheidet daher aus, wenn die
Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen
und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht (BAG, Urteil vom 12. Dezember 2013 - 8 AZR 942/12).
Von einer bewussten Regelungslücke ist aber im einschlägigen
Fall nicht auszugehen. Die Tarifvertragsparteien haben eine Abfindung für
Arbeitnehmer unter 40 Jahren, die jedoch schon eine 5-jährige
Betriebszugehörigkeit aufweisen, in Höhe eines Monatsgehaltes vorgesehen. Dass
sie demgegenüber eine Abfindung für Arbeitnehmer, die älter als 40 Jahre sind,
aber ebenfalls schon eine mindestens 5-jährige Betriebszugehörigkeit vorweisen
können, ausschließen wollten, ist schon deswegen nicht anzunehmen, weil sie das
Lebensalter ab 40 ausdrücklich als abfindungserhöhenden Faktor anerkannt haben.
Zudem wäre die bewusste Versagung jeglicher Abfindung für über 40-jährige
Arbeitnehmer, die noch nicht zehn Jahre Betriebszugehörigkeit zurückgelegt
haben, eine Anknüpfung allein an das Lebensalter, für die ein legitimes Ziel
zur Rechtfertigung im betreffenden Tarifvertrag nicht erkennbar ist, § 10 Satz
1 AGG.
Daraus folgt das Vorliegen einer unbewussten Tariflücke.
Eine tarifvertragliche Lücke ist in der Weise auszufüllen, dass die Grundzüge
und Systematik des konkreten Vertrages „zu Ende gedacht“ werden. Hierfür ist an
den Tarifvertrag selbst anzuknüpfen, denn die in ihm enthaltenen Regelungen und
Wertungen, sein Sinn und Zweck sind Ausgangspunkt der Vertragsergänzung.
Die klagende Arbeitnehmerin war fast 10 Jahre
betriebszugehörig.
Was die Tarifvertragsparteien bei einer „fast 10-jährigen“
Betriebszugehörigkeit eines Arbeitnehmers mit vollendetem 40. Lebensjahr
geregelt hätten, kann dem Tarifwerk nicht entnommen werden und bliebe eine
unzulässige, in die Tarifautonomie eingreifende Spekulation der Gerichte. Da an
die Stufe der erreichten Betriebszugehörigkeit angeknüpft wird und insofern die
unter und über 40-Jährigen gleichbehandelt werden, liegt keine unmittelbare
Benachteiligung wegen des Alters vor. Für eine mittelbare Benachteiligung iSd.
§ 3 Abs. 2 AGG sind weder dem Akteninhalt noch dem Vorbringen der Klägerin
Anhaltspunkte zu entnehmen.
Damit war die Revision der Klägerin zurückzuweisen. Sie hat
keinen Anspruch auf die von ihr begehrte höhere Abfindung.
Volltext des Urteils des Bundesarbeitsgerichts: BAG, Urteil vom 12. Dezember 2013 - 8 AZR 942/12:
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 13. Juli 2012 - 10 Sa 199/12 - wird
zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe eines
Abfindungsanspruchs aus Tarifvertrag.
Die am 18. März 1970 geborene Klägerin war seit dem 15.
September (richtig wohl: Dezember) 2000 bei der Beklagten in deren Betrieb in F
beschäftigt. Als Teilzeit-Angestellte verdiente sie zuletzt monatlich brutto
2.059,69 Euro.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben
vom 29. September 2009 fristgemäß zum 30. Juni 2010. Zugleich bot sie der
Klägerin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ab dem 1. Januar (richtig
wohl: Juli) 2010 in H an, da sie entschieden hatte, ihren Geschäftssitz dorthin
zu verlegen. Die Klägerin nahm dieses Änderungsangebot nicht an. Im
nachfolgenden Kündigungsrechtsstreit wurde durch rechtskräftiges Urteil des
Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 25. März 2011 - 10 Sa 1290/10 -
festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien zum 30. Juni
2010 beendet worden ist.
Kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme fanden auf das
Arbeitsverhältnis die Tarifverträge für das private Bankgewerbe Anwendung (§ 10
Abs. 1 des Arbeitsvertrages vom 4. Dezember 2000). Zu den anzuwendenden
Tarifverträgen gehörten auch die für das private Bankgewerbe vereinbarten
Rationalisierungsschutzabkommen (RSchABK). Zwischen den Parteien ist in der
Revisionsinstanz nicht mehr streitig, dass die Verlegung des Geschäftssitzes
von F nach H eine Rationalisierungsmaßnahme im Sinne der Rationalisierungsschutzabkommen
darstellt, wohl aber, ob das tarifvertragliche Rationalisierungsschutzabkommen
in der ab dem 8. Juli 2004 geltenden Fassung - so die Beklagte - oder in der ab
dem 10. Juni 2010 - so die Klägerin - geltenden Fassung Anwendung findet. Die
spätere Fassung übernimmt zwar in § 9 RSchABK, der die Abfindungen bei
Rationalisierungen regelt, die Anspruchsvoraussetzungen der früheren Fassung,
sieht aber ab vollendetem 40. Lebensjahr höhere Abfindungen vor.
§ 9 Ziff. 3 RSchABK idF vom 10. Juni 2010
lautet wie folgt:
"Führen
Rationalisierungsmaßnahmen - auch in Form eines Auflösungsvertrages -
zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, so erhält der Arbeitnehmer eine
Abfindung. Sie beträgt:
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Für Arbeitnehmer vor Vollendung des
40. Lebensjahres beträgt die Abfindung: |
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5-jähriger Betriebszugehörigkeit |
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10-jähriger Betriebszugehörigkeit |
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| bei
15-jähriger Betriebszugehörigkeit |
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Für die Berechnung der
Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter ist der Tag der Beendigung
des Arbeitsverhältnisses maßgebend.“
Der Anspruch auf die Abfindung ruht, wenn der Arbeitnehmer
Kündigungsschutzklage erhebt (§ 9 Ziff. 5 RSchABK).
Die Klägerin meint, das Rationalisierungsschutzabkommen sei
in der ab dem 10. Juni 2010 geltenden Fassung anzuwenden, da ihr
Arbeitsverhältnis erst zum 30. Juni 2010 beendet worden sei. Daher habe sie
einen Anspruch auf Abfindung iHv. 4,5 Monatsgehältern oder 9.268,61 Euro. Sie
erfülle die Anspruchsvoraussetzungen, da sie im Zeitpunkt ihres Ausscheidens am
30. Juni 2010 ihr 40. Lebensjahr vollendet und im 10. Jahr der
Betriebszugehörigkeit zur Beklagten gestanden habe. Bei richtiger Auslegung von
§ 9 Ziff. 3 RSchABK müsse die Betriebszugehörigkeit keine vollen zehn Jahre
betragen. Nach Sinn und Zweck der tariflichen Regelung sollten ältere
Arbeitnehmer, beginnend mit vollendetem 40. Lebensjahr, gegenüber jüngeren höhere
Ansprüche haben. Daher müsse es genügen, wenn sie sich bei Ausscheiden im 10.
Jahr ihrer Betriebszugehörigkeit befunden habe.
Unter Berücksichtigung des Berufungsurteils beantragt die
Klägerin,
die Beklagte zu verurteilen, an sie eine weitere Abfindung
in Höhe von 3,5 Gehältern oder 7.208,92 Euro brutto zu zahlen.
Zur Begründung ihres Antrags auf Klageabweisung vertritt die
Beklagte zum einen die Auffassung, das Rationalisierungsschutzabkommen sei in
der Fassung 2004 anzuwenden, da es auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung
ankomme. Jedenfalls erfülle die Klägerin die Voraussetzungen für eine Abfindung
in der von ihr verlangten Höhe nicht. Sie sei keine zehn Jahre bei der
Beklagten beschäftigt gewesen. § 9 Ziff. 3 RSchABK könne nicht so ausgelegt
werden, dass bei vollendetem 40. Lebensjahr eine Betriebszugehörigkeit „bis zu
10 Jahren“ oder „im 10. Jahr“ der Betriebszugehörigkeit ausreiche. Es bestehe,
soweit eine tarifliche Regelungslücke anzunehmen sei, allenfalls ein
Abfindungsanspruch iHv. einem Monatsgehalt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage iHv. 4,5 Monatsgehältern
stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das
erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und eine Abfindung iHv. 2.059,69
Euro brutto, dh. in Höhe eines Monatsgehaltes zugesprochen und im Übrigen die
Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision
verfolgt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils,
während die Beklagte die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Nach § 9 Ziff. 3
des arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Rationalisierungsschutzabkommens
steht der Klägerin keine höhere Abfindung zu, als ihr insoweit rechtskräftig
vom Berufungsgericht zuerkannt wurde.
A. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im
Wesentlichen wie folgt begründet: Die Beklagte schulde der Klägerin eine
Abfindung nach § 9 Ziff. 3 Satz 2 iVm. § 3 RSchABK in Höhe eines
Bruttomonatsgehaltes. Das Arbeitsverhältnis sei durch eine
Rationalisierungsmaßnahme beendet worden. Es könne dahinstehen, in welcher
Fassung das Rationalisierungsschutzabkommen zur Anwendung komme. Die Klägerin
erfülle die in beiden Fassungen gleichen Voraussetzungen für eine Abfindung
iHv. 4 oder 4,5 Monatsgehältern nicht. Die für Arbeitnehmer im Alter ab 40
Jahren in § 9 Ziff. 3 RSchABK vorgesehenen höheren Abfindungsbeträge entstünden
erst ab einer Betriebszugehörigkeit von mindestens zehn Jahren. Die
tabellarische Angabe „10“ könne nicht iSv. „bis zu 10“ Jahren der
Betriebszugehörigkeit ausgelegt werden. Nach Sinn und Zweck der tariflichen
Regelung sei es auszuschließen, dass ein Arbeitnehmer mit Vollendung des 40.
oder eines höheren Lebensjahres bereits mit dem ersten Tag seiner
Betriebszugehörigkeit die erhöhte Abfindung verlangen könne, sofern ihm
rationalisierungsbedingt gekündigt werde. Allerdings enthalte das
Rationalisierungsschutzabkommen eine unbewusste Regelungslücke für Arbeitnehmer
wie die Klägerin. Diese könne durch die Gerichte ohne unzulässigen Eingriff in
die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie geschlossen werden, soweit
sich aus dem Tarifvertrag selbst hinreichende Anhaltspunkte dafür ergäben, wie
die Tarifvertragsparteien nach ihrem mutmaßlichen Willen die nicht
berücksichtigte Fallkonstellation geregelt hätten, wenn sie denn die
Lückenhaftigkeit erkannt hätten. In den Rationalisierungsschutzabkommen hätten
die Tarifvertragsparteien zu erkennen gegeben, dass im Falle des
rationalisierungsbedingten Verlustes von Arbeitsplätzen immer Abfindungen
gezahlt werden sollten, wenn bestimmte Mindestzeiten an Betriebszugehörigkeit
erreicht worden sind. Daher sei nicht davon auszugehen, dass die
Tarifvertragsparteien Arbeitnehmer, die erst deutlich nach Vollendung des 40.
Lebensjahres in ein Arbeitsverhältnis eintreten, oder sich darin ohne
10-jährige Betriebszugehörigkeit befinden, von jeglicher Abfindungszahlung
ausnehmen wollten. Insoweit könne unterstellt werden, dass in solchen Fällen
die „normale“ Abfindung des § 9 Ziff. 3 Satz 2 RSchABK zu zahlen sei. Da die
Klägerin im Zeitpunkt der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses noch keine
10-jährige, jedoch eine 5-jährige Betriebszugehörigkeit aufzuweisen habe, stehe
ihr ein Monatsgehalt als Abfindungszahlung zu.
B. Diese Begründung hält einer revisionsrechtlichen
Überprüfung stand.
I. Zu Recht konnte das Landesarbeitsgericht es dahinstehen
lassen, welche Fassung des Rationalisierungsschutzabkommens Anwendung findet.
Selbst wenn zugunsten der Klägerin unterstellt wird, ihr Fall beurteile sich
nach dem höhere Abfindungsbeträge vorsehenden Rationalisierungsschutzabkommen
in der Fassung vom 10. Juni 2010, ist die Revision unbegründet. Denn die
Klägerin erfüllt die in beiden Rationalisierungsschutzabkommen gleichlautenden
Voraussetzungen für eine erhöhte Abfindung nicht.
II. Rechtsfehlerfrei hat das Landesarbeitsgericht erkannt,
dass die erstinstanzliche Auslegung der Ziffer „10“ in § 9 Ziff. 3 Satz 2
RSchABK iSv. „im 10. Jahr“ oder „bis zu 10 Jahren“ Betriebszugehörigkeit die
zulässigen Grenzen der Auslegung überschritt. Die Ziffer „10“ bedeutet, dass
zehn Jahre der Betriebszugehörigkeit am Tag der Beendigung des
Arbeitsverhältnisses (§ 9 Ziff. 3 Satz 4 RSchABK) vollendet sein müssen.
1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages
folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die
Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Ausgehend vom Tarifwortlaut ist der
maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Erlaubt der
Tarifwortlaut kein abschließendes Ergebnis, ist der wirkliche Wille der
Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen
Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den
tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen
Willen der Tarifvertragsparteien liefert und oft nur so der Sinn und Zweck der
Tarifnorm ermittelt werden kann. Verbleiben noch Zweifel, können weitere
Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, die
folgende Tarifgeschichte und ggf. auch die praktische Tarifübung herangezogen
werden, dies ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge. Es gibt nämlich weder
einen allgemeinen Erfahrungssatz, in welcher Weise die Tarifvertragsparteien
jeweils den mit einer Tarifnorm verfolgten Sinn und Zweck zum Ausdruck bringen,
noch gebietet die juristische Methodenlehre hier eine bestimmte Reihenfolge der
Auslegungskriterien (BAG, Urteil vom 12. September 1984 - 4 AZR 336/82 - BAGE 46, 308 = AP TVG § 1
Auslegung Nr. 135 = EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 14). Auch die Praktikabilität
denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt
derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten,
zweckorientierten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt
(vgl. BAG, Urteil vom 13. Oktober 2011 - 8 AZR 514/10 - Rn. 26, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 228; BAG, Urteil vom 11. November 2010 - 8 AZR 392/09 - Rn. 16, AP BGB § 613a Nr. 392; BAG, Urteil vom 23. September 2009 - 4 AZR 382/08 - Rn. 14, BAGE 132, 162 = AP TVG § 1 Tarifverträge: Arzt Nr. 3; BAG, Urteil vom 20. Januar 2009 - 9 AZR 677/07 - Rn. 35, BAGE 129, 131 = AP TVG § 1 Altersteilzeit Nr. 43 = EzA TVG
§ 4 Altersteilzeit Nr. 30; 21. Juli 1993 - 4 AZR 468/92 - zu B II 1 a aa der
Gründe, BAGE 73, 364 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 144 = EzA TVG § 1 Auslegung Nr.
28).
2. Der „Wortlaut“ der tabellarischen Ziffernangabe „10“ in §
9 Ziff. 3 Satz 2 RSchABK ist allerdings für sich genommen nicht eindeutig und
daher grundsätzlich einer Auslegung zugänglich. Bereits die Angabe in einer
tarifvertraglichen Tabelle lässt aber systematischen Auslegungsgesichtspunkten
besondere Bedeutung zukommen. Gegen die von der Klägerin vertretene und vom
Arbeitsgericht übernommene Auslegung spricht zum einen, dass auch die weiteren
Steigerungsstufen in der Tabelle von § 9 Ziff. 3 Satz 2 RSchABK „14, 18, 22 und
26“ ohne jeglichen Zusatz aufgeführt werden. Dass es sich bei den
Ziffernangaben um „Jahre“ handeln soll, die nach einem Stichtag, dem Tag der
Beendigung des Arbeitsverhältnisses, berechnet werden sollen, ergibt sich aus §
9 Ziff. 3 Satz 3 und Satz 4 RSchABK. Aus Satz 3 ergibt sich zudem, dass es sich
jeweils um volle Jahre der Betriebszugehörigkeit handeln soll, weil es dort
ausdrücklich heißt: „bei 5-jähriger Betriebszugehörigkeit“ usw. Dies verbietet
ein Verständnis von „bis zu 5-jähriger Betriebszugehörigkeit“ ebenso wie bis zu
14- oder bis zu 22-jähriger Betriebszugehörigkeit in § 9 Ziff. 3 Satz 2
RSchABK. Eine Auslegung im Sinne von „im 10. Jahr“ oder „im 15. Jahr“ der
Betriebszugehörigkeit ist noch ferner liegend und findet weder in Wortlaut noch
Systematik des Tarifvertrages eine Stütze. § 9 Ziff. 3 RSchABK stellt erkennbar
die Betriebszugehörigkeit als Regelungskriterium an die erste und das
Lebensalter, darauf aufbauend, an die zweite Stelle der tariflichen
Regelungstechnik. Ohne Rechtsfehler hat das Landesarbeitsgericht darauf
hingewiesen, dass es dieser tariflichen Struktur widerspräche, wenn ein am Tage
der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses über 40-jähriger Arbeitnehmer mit
einer nur kurzen Betriebszugehörigkeit („bis zu 10 Jahren“) eine Abfindung von
4 oder 4,5 Bruttomonatsgehältern beanspruchen könnte. Im Übrigen wird im
Tarifvertrag hinsichtlich des Lebensalters ausdrücklich von „Vollendung“ der
entsprechenden Altersstufen gesprochen, § 9 Ziff. 3 Satz 3 RSchABK.
III. Ohne Rechtsfehler hat das Landesarbeitsgericht erkannt,
dass das Rationalisierungsschutzabkommen 2010 ebenso wie die vorhergehende
Fassung eine Regelungslücke enthält. Nach dem Wortlaut der Tarifvorschrift ist
eine Abfindung für Arbeitnehmer, die zwar das 40. Lebensjahr schon vollendet
haben, jedoch nicht auf mindestens zehn Jahre Betriebszugehörigkeit verweisen
können, nicht vorgesehen. Das Landesarbeitsgericht ist rechtlich ebenso
zutreffend von einer unbewussten Regelungslücke ausgegangen, wie es diese der
Tarifstruktur folgend geschlossen hat.
1. Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden
Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die
durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende Auslegung eines
Tarifvertrages scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine
regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung
höherrangigem Recht nicht widerspricht (BAG, Urteil vom 23. April 2013 - 3 AZR 23/11 - Rn. 29). Eine Lückenschließung im Wege der ergänzenden
Tarifauslegung hat zu unterbleiben, wenn unter Berücksichtigung von Treu und
Glauben den Tarifvertragsparteien ein Spielraum zur Lückenschließung verbleibt
und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie
überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst
zu finden (vgl. BAG, Urteil vom 23. April 2013 - 3 AZR 23/11 - Rn. 30).
2. Von einer bewussten Regelungslücke ist nicht auszugehen.
Die Tarifvertragsparteien haben eine Abfindung für Arbeitnehmer unter 40
Jahren, die jedoch schon eine 5-jährige Betriebszugehörigkeit aufweisen, in
Höhe eines Monatsgehaltes vorgesehen, § 9 Ziff. 3 Satz 3 RSchABK. Dass sie
demgegenüber eine Abfindung für Arbeitnehmer, die älter als 40 Jahre sind, aber
ebenfalls schon eine mindestens 5-jährige Betriebszugehörigkeit vorweisen
können, ausschließen wollten, ist schon deswegen nicht anzunehmen, weil sie das
Lebensalter ab 40 in § 9 Ziff. 3 Satz 2 RSchABK ausdrücklich als
abfindungserhöhenden Faktor anerkannt haben. Zudem wäre die bewusste Versagung
jeglicher Abfindung für über 40-jährige Arbeitnehmer, die noch nicht zehn Jahre
Betriebszugehörigkeit zurückgelegt haben, eine Anknüpfung allein an das
Lebensalter, für die ein legitimes Ziel zur Rechtfertigung im
Rationalisierungsschutzabkommen nicht erkennbar ist, § 10 Satz 1 AGG.
3. Auch die Schließung der unbewussten Tariflücke durch das
Berufungsgericht hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
a) Eine tarifvertragliche Lücke ist in der Weise
auszufüllen, dass die Grundzüge und Systematik des konkreten Vertrages „zu Ende
gedacht“ werden (vgl. für den Fall der ergänzenden Vertragsauslegung: BGH, Urteil vom 20. September 1993 - II ZR 104/92 - zu 2 der Gründe, BGHZ 123, 281; BAG, Urteil vom 19. Mail 2010 - 4 AZR 796/08 - Rn. 31, BAGE 134, 283 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr.
76 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 48). Hierfür ist an den
Vertrag selbst anzuknüpfen, denn die in ihm enthaltenen Regelungen und
Wertungen, sein Sinn und Zweck sind Ausgangspunkt der Vertragsergänzung.
b) Danach ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden,
wenn das Landesarbeitsgericht im Fall der Klägerin auf eine Abfindung in Höhe
eines Bruttomonatsgehaltes erkannt hat. Für die Höhe der Abfindung haben die
Tarifvertragsparteien im Rationalisierungsschutzabkommen die Dauer der
Betriebszugehörigkeit als grundlegende Voraussetzung gewählt. Bei einer
Betriebszugehörigkeit, die unter fünf Jahren liegt, soll es keine Abfindung
geben. Bei (vollendeter) 5-jähriger Betriebszugehörigkeit ein Monatsgehalt und
bei vollendeter 10-jähriger Betriebszugehörigkeit weitere Gehälter, je nach
dem, ob das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht oder vollendet ist. Die Klägerin
hat eine über 5-jährige Betriebszugehörigkeit, wenn auch noch nicht eine von
zehn Jahren vorzuweisen. Sie war am 18. März 2010 40 Jahre alt geworden und ist
am 30. Juni 2010 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Da ihr das höhere
Lebensalter am Tag der Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem erkennbaren
Willen der Tarifvertragsparteien nach keine Nachteile einbringen sollte, ist es
nach der Struktur und den Wertungen des Tarifvertrages konsequent, ihr
ebenfalls ein Monatsgehalt aufgrund ihrer über 5-jährigen Betriebszugehörigkeit
zuzusprechen. Dagegen ist anders als nach der Auffassung der Revision weder die
auf 4,5 Bruttomonatseinkommen gesteigerte Abfindung zuzusprechen, weil die
Klägerin eben noch keine Betriebszugehörigkeit von vollendeten zehn Jahren
aufzuweisen hat, noch eine Abfindung „zwischen“ einem Monatsgehalt und 4,5
Monatsgehältern. Dafür bietet das Tarifwerk keine hinreichenden Anhaltspunkte.
In § 9 Ziff. 3 Satz 3 RSchABK wird für unter 40-jährige Arbeitnehmer die
Abfindung ebenfalls erst bei „10-jähriger Betriebszugehörigkeit“ auf zwei
Monatsgehälter erhöht. Eine solche Betriebszugehörigkeit liegt im Fall der
Klägerin gerade nicht vor. Was die Tarifvertragsparteien bei einer „fast
10-jährigen“ Betriebszugehörigkeit eines Arbeitnehmers mit vollendetem 40.
Lebensjahr geregelt hätten, kann dem Tarifwerk nicht entnommen werden und
bliebe eine unzulässige, in die Tarifautonomie eingreifende Spekulation der
Gerichte. Da an die Stufe der erreichten Betriebszugehörigkeit angeknüpft wird
und insofern die unter und über 40-Jährigen gleichbehandelt werden, liegt keine
unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters vor. Für eine mittelbare
Benachteiligung iSd. § 3 Abs. 2 AGG sind weder dem Akteninhalt noch dem Vorbringen der Klägerin
Anhaltspunkte zu entnehmen.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
Hauck Hauck Breinlinger Eimer Wroblewski.